31. Mülheimer Wassertechnisches Seminar – Rückblick
Das 31. Mülheimer Wassertechnische Seminar 2023 hatte sich dem Thema Digitalisierung verschrieben – und zwar mit einem umfassenden Spektrum an Einzelaspekten: Cybersicherheit und Resilienz, Monitoring der Gewinnung, Aufbereitung und Verteilung, Planung und Steuerung von Anlagen per Digitalem Zwilling sowie dem optimierten Energiemanagement.
Keynote-Vorträge von Prof. Christian Wolf (Hochschule Köln) und Andreas Hein (IWW)
Die beiden Vorträge machten den knapp 70 Teilnehmer:innen greifbar klar, dass es keine Alternativen zur Digitalisierung gibt. Daten vom Arbeitsmarkt und auch zur Studienwahl an Hochschulen weisen erhebliche Trends zur Verknappung von Fachpersonal aus. Die sich ergebende Lücke ist nur mittels digitaler Lösungen zu schließen. Sowohl das rare Fachpersonal zur Implementierung digitaler Tools als auch neue Fortbildungssysteme für die flankierende Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden stellen die tragenden Säulen dar. Der Appell an alle Unternehmen lautete: Selbst bei einer fehlenden Gesamtstrategie sollten umgehend einzelne Digitalisierungsprojekte angegangen werden. Praxistaugliche Lösungen seien nun für fast sämtliche Arbeitsprozesse verfügbar und der Erfahrungsgewinn würde das Risiko eines Misserfolgs aufwiegen. Lösungsansätze sollten dann aber nicht nur innerhalb eines Projekts, sondern im Gesamtunternehmen implementiert werden. Die Wasserversorgung als kritische Infrastruktur muss sich dabei in einem hohen Maße resilient aufstellen. Lösungsalgorithmen müssen nicht nur sicher, sondern offen zugänglich sein, um eine Nachvollziehbarkeit insbesondere bei mehrdimensionalen Entscheidungskriterien sicherzustellen.
Jan Goebel (BWB)
stellte den Aufbau von IT-Sicherheit in drei Verteidigungslinien vor. Doch selbst nach Professionalisierung der Cyber-Sicherheitsfunktionen bliebe das große Rest-Risiko eines Angriffs von innen, wenn nicht geschulte Mitarbeitende kritische E-Mail-Anhänge öffnen. Daher sei parallel zur Verbesserung der Cyber-Reife und parallel zur periodischen Analyse geloggter Sicherheitsaktivitäten ein permanentes Training des Bewusstseins des Personals durch Schulungen und E-Mails mit Schadware-Simulation wichtig. Letztlich entscheidend seien aber vorbereitende IT-Maßnahmen, um maßgebliche Prozesse (RTO, Recovery Time Objectives) eines betroffenen Systems in Rekordzeit wieder dem Alltagsbetrieb übergeben zu können. Externe Fachfirmen seien wertvoll für die kontinuierliche Schachstellenanalyse und für präventive Informationen zu den aktuellsten Darknet-Aktivitäten.
Dr. Dionysios Nikolopoulos, Gewinner des Mülheimer Water Award 2022,
stellte die von ihm im Rahmen des EU-Projekts RISKNOUGHT entwickelte digitale Plattform CPRISK-ABM für den cyber-physikalischen Stress-Test von Wasserverteilungssystemen vor. Diese stützt sich auf Rohrnetzdaten wie solche aus EPANET, um die Auswirkung potenzieller sicherheitsrelevanter Bedrohungen auf Rohrnetzzonen, seien sie physikalischer Art (zufällig oder durch Attacke) oder cybertechnischer Art (Angriff auf SCADA-System), zu analysieren. Die Software schlägt gezielte Maßnahmen vor, um Eingriffe oder Ausfälle in Echtzeit detektieren und das Schadausmaß minimieren zu können.
Prof. André Niemann (Universität Duisburg-Essen)
berichtete über Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit von IoT-NB Sensornetzwerken (Internet of Things für Sensoren mit Narrow-Band Radiotechnologie) und deren Vorteil (autark, ohne Spannungsversorgung, hohe Reichweite) gegenüber der LoRaWAN-Technologie. Eine derartige Schwarmsensorik wurde an seinem Lehrstuhl genutzt, um ein Wassereinzugsgebiet mittels Sensoren für Wasserstand, Druck, Bodenfeuchte, Temperatur und Wasserqualität zu monitoren. Zur Auswertung der Daten gehört die Elimination von Fehlern und Ausreißern, Ermittlung statistischer Kenngrößen und Trends in saisonaler Abhängigkeit, iterativen Schätzung von Parametern zur Identifikation von Systemzuständen sowie eine Anomalie-Detektion (Events) und die Prognose.
Dr. Nicolas Caradot (Kompetenzzentrum Wasser Berlin)
stellte das Berliner Projekt „digital-water.city“ mit vielen Einzelmaßnahmen vor
• LoRaWAN-Sensoren für das Monitoring von Abwasserkanälen, um Flutereignisse und außerordentliche Schmutzeinträge (z. B. durch Regenüberlaufbecken) zu detektieren
• Prognosetool für ein wirtschaftliches Assetmanagement von Trinkwasserbrunnen
• Echtzeit-Prognose der bakteriologischen Belastung von Flüssen, um sie als Badegewässer sicher freigeben zu können.
Bernd Lindemann (Gelsenwasser)
skizzierte den Werdegang und die aktuellen Inhalte und Ziele des DVGW TK „Digitalisierung“. Im Zuge eines Scoutings für Digitalisierungsthemen wurden Priorisierungen bei den Mitgliedsunternehmen abgefragt, was zur Gründung von drei Projektkreisen führte. Die Aktivitäten (Sammlung von Best-Practice-Beispielen, DVGW-Merkblätter, Umfragen, Themenseiten der DVGW-Homepage) dieser drei neu gegründeten Projektkreise (PK 1 „Daten/digitaler Zwilling“, PK 2 „Cloudnutzung“, PK 3 „Building Information Modeling (BIM)“) wurden vorgestellt.
Jens Kley-Holsteg (Gelsenwasser)
stellte das BMWK-Projekt IMProvt II vor: Mit Digitalisierung zur energetischen Optimierung der Wasserwirtschaft. Es soll eine offene, skalierbare und ganzheitliche Dateninfrastruktur für den operativen Betrieb geschaffen werden, die KRITIS-konform ist. Auch hier kommen der Validierung und Plausibilisierung erfasster Daten sowie ggf. deren Veredlung eine zentrale Bedeutung zu, um IST-Zustände plausibel zu erheben und zu bewerten. Die Simulation des energetischen Zustandes entlang von Prozessen ist dann Grundlage von Prognosen, um Handlungsmöglichkeiten zur Erzielung optimaler energetischer Betriebszustände zu erwirken. Alarmmeldungen werden hinsichtlich ihrer Kritikalität priorisiert und es erfolgt eine Ursacheneingrenzung.
Der Vortrag von Michael Natschke (Xylem)
befasste sich mit den Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz (KI) in der Wasserversorgung, wobei zunächst die generelle Schrittkette zur Umsetzung von Projekten zur Implementierung von Digitalen Zwillingen erläutert wurde. Es wurden Anwendungsbeispiele für die Software Xylem Vue-Analytics zur Echtzeitüberwachung von Prozessen mit den aktuellen Schwerpunkten energetische Optimierung und Zustandsbewertung von Trinkwasserleitungen vorgestellt.
Dr. Jens Alex (ifak)
gab einen Ausblick auf Digitale Zwillinge für Anlagen zur Trinkwasseraufbereitung mit dem Schwerpunkt wasserchemisches Korrosionsverhalten und Kalk-Kohlensäuresystem. Die Demonstration der Einsatzmöglichkeiten erfolgte anhand von Beispielen und Ausblicken für die in der Abwassertechnologie bereits etablierten Module der SIMBA-Software. Auf der Basis eines digitalen Modells für die geplanten Prozesse werden entsprechende MSR-Konzepte implementiert. Die Inbetriebnahme der Automatisierung erfolgt dann zunächst virtuell mit dem Training zu bestimmten Optimierungszielstellungen (Betriebskosten, Energie, CO2-Footprint, Reinigungsleistung etc.), bevor eine online-gestützte Simulation Regelfunktionen des Betriebs übernimmt.
Christoph Blesch und Sebastian Degen (BAURCONSULT)
erläuterten anhand von Planungsdaten und Modellen für einzelne Gewerke des neuen Wasserwerks an der Kinzig (Hessen) die Vorteile und Strukturen eines BIM: modellieren, simulieren, verifizieren, real bauen. BIM ermöglicht zudem eine modell¬basierte Kommunikation. In Koordinationssitzungen mit Planungsbeteiligten unterschiedlicher Disziplinen werden Maßnahmen beschlossen, in einem Koordinationsprogramm als Arbeitsaufträge erfasst, anschließend in Form eines BIM-Collaboration Formats (BCF) exportiert und als schlanke E-Mail an Betroffene versandt. Veranschaulicht wurden auch die Prozesse zwischen den Softwarepaketen für BIM, CAD und Terminplanung.
Dr. Andreas Nahrstedt (IWW)
stellte offene Flanken von BIM oder auch PIM (Process Information Modelling) zur Planung verfahrenstechnischer Anlagen und ihrer Betriebssteuerung vor. Genormte Datenstrukturen (Industry Foundation Classes, IFCs) fehlen noch vollständig, proprietäre Datenformate sind z. T. für den Austausch von CAD-Daten für CFD-Anwendungen (numerische Strömungssimulation) inkompatibel. Am Beispiel eines Ozonreaktors in einem Wasserwerk der Gelsenwasser AG, das mit PIM geplant wurde, wurde der Import und die Verschlankung von CAD-Daten erläutert, mit denen in der CFD-Software Flow-3D numerische Berechnungen durchgeführt wurden, die als Grundlage eines Digitalen Zwillings die Reaktionsprozesse der Ozonung beschreiben und visualisieren.